Deutschland braucht dringend neuen Wohnraum – aber gebaut wird, als hätten alle Beteiligten kollektiv beschlossen, das Thema erst einmal auf eine To-Do-Liste für „nach der Sommerpause 2034“ zu setzen. Die Baukräne hängen schlaff in der Luft, Genehmigungszahlen schwächeln und der Wohnungsbau wirkt insgesamt wie eine Branche, die gerade den Snooze-Button ihres Schicksals gefunden hat.
Dabei ist der Bedarf riesig: Deutschlands Städte wachsen, die Menschen ziehen weiter in Ballungsräume, und gleichzeitig schrumpft der Neubau wie eine Wollsocke im 90-Grad-Programm. Der Rückstand bei der Schaffung neuen Wohnraums ist nicht nur sichtbar – er ist messbar, spürbar und wird von Jahr zu Jahr größer.
Aktuelle Zahlen zeigen das deutlich:
Laut einem Bericht des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) wird der Wohnungsbau 2025 und 2026 deutlich einbrechen:
https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/immobilien-iw-prognose-wohnungsbau-schrumpft-2025-und-2026-deutlich-14643632.html
Und obwohl die Baugenehmigungen im Spätsommer 2025 einmalig nach oben schossen, lag das daran, dass der Vergleichsmonat 2024 ein historischer Tiefpunkt war. Die Einordnung dazu liefert die Welt:
https://www.welt.de/politik/deutschland/article691c2fbc44ecdb8c59719838/24-400-wohnungen-rekord-bei-baugenehmigungen-im-september-kritik-an-historisch-niedriger-fertigstellungen.html
Der Trend bleibt eindeutig: gebremst.
Der perfekte Sturm: Warum kaum jemand noch baut
Wenn eine Branche gleichzeitig unter hohen Zinsen, steigenden Kosten, chronischem Personalmangel und bürokratischen Hürden leidet, entsteht ein Cocktail, den selbst hartgesottene Projektentwickler nur ungern trinken. Genau das erleben wir jetzt.
1. Zinsen: Die große Ernüchterung
Die goldenen Zeiten des „Kredit für alle“ sind vorbei.
Finanzierungen haben sich massiv verteuert, und wer bauen will, muss inzwischen durchkalkulieren wie ein Buchhalter unter Koffein.
Ein Beispiel: Viele Projekte wurden einst mit Zinssätzen unter 1 % geplant. Heute liegen sie bei 3–4 %. Das klingt harmlos – bis man ein 20-Millionen-Projekt rechnet. Dann brennt die Excel-Tabelle.
2. Baukosten: Ein Preiskarussell ohne Ausstiegsknopf
Materialien werden teurer, Energie bleibt teuer, Lieferketten husten noch immer nach der Pandemie, und an jeder zweiten Stelle kommt ein neues technisches Erfordernis dazu.
Der Baukostenindex zeigt seit Jahren nur eine Richtung: oben.
Daten dazu finden sich u. a. bei der Bundesbank:
https://www.bundesbank.de/en/statistics/sets-of-indicators/building-permits-and-completed-housing-units-in-germany-622710
Der Effekt: Selbst solide Projekte knicken unter den Kosten ein.
3. Fachkräftemangel: Ohne Menschen kein Mörtel
Es fehlen Maurer, Zimmerleute, Elektriker, Installateure – die gesamte Baukette schwächelt personell.
Viele Unternehmen können selbst dann nicht bauen, wenn sie wollen, weil die Kapazitäten fehlen.
Ein Stimmungsbild dazu gibt das ifo-Institut regelmäßig:
https://www.ifo.de/en/facts/2025-10-20/business-climate-residential-construction-germany-improves-significantly
Und auch wenn sich die Stimmung gelegentlich aufhellt: Auf den Baustellen fehlt es weiterhin an Personal.
4. Bürokratie: Das Formular-Labyrinth
Deutschland wäre nicht Deutschland, wenn man Bauherren nicht mit einem administrativen Hindernisparcours belohnen würde. Zwischen Energieeffizienz, Emissionsschutz, Naturschutz, Abstandsflächen, Stellplatznachweisen, Schallschutz, Brandschutz, Denkmalschutz und ESG-Regeln fühlt man sich schnell wie Indiana Jones im Bauantragsdschungel.
Planungsverfahren dauern Jahre, Genehmigungen Monate. Und wer sich durch ein Förderprogramm arbeitet, hat bereits Anspruch auf ein Fortbildungszertifikat in geduldigen Überlebenstechniken.
Ein Markt im Spagat: Nachfrage hoch, Produktion niedrig
Während der Neubau kollabiert, bleibt der Bedarf enorm:
- Mieter*innen: weniger Auswahl, höherer Wettbewerb, steigende Preise.
- Käufer*innen: teurere Finanzierungen, eingeschränkte Angebote, Risiken im Neubau.
- Eigentümer*innen: Bestand bleibt wertvoll, aber energetische Modernisierung wird Pflichtprogramm.
- Investor*innen: Neubau-Chancen stagnieren, Umbau und Revitalisierung werden spannender.
Studien zeigen: Deutschland müsste rund 320.000 neue Wohnungen pro Jahr bauen. Geschafft werden viel weniger. Reuters liefert dazu eine nüchterne Übersicht:
https://www.reuters.com/markets/europe/germany-must-build-320000-apartments-yearly-meet-housing-demand-study-shows-2025-03-20
Lichtblicke – oder nur hübsche Folien in Präsentationen?
Modulares Bauen: Schnell, schlank, aber kein Allheilmittel
Serielles Bauen könnte Prozesse beschleunigen und Kosten senken. Könnte.
In der Praxis bleibt die Wirkung begrenzt, solange:
- Bauland fehlt
- Personal fehlt
- Genehmigungsprozesse langsam bleiben
Kurz: Der Turbo zündet nicht, wenn der Motor im Standgas röchelt.
Umbau statt Neubau: Theorie top, Praxis fluchtverdächtig
Die Idee, aus leerstehenden Büroflächen Wohnungen zu machen, wird gerne politisch gepredigt. Die Realität ist deutlich weniger charmant:
- Falsche Grundrisse
- Mangelnde Belichtung
- Brandschutzprobleme
- Statikgrenzen
- Unwirtschaftlichkeit
Viele Projekte bleiben am Ende genau das: PowerPoint-Visionen.
Nachverdichtung: Der Kampf um den letzten Quadratmeter
Aufstockungen, Hinterhöfe, Baulücken – alles sinnvoll.
Aber auch hier stören Regularien, Einsprüche, Abstimmungsverfahren.
Der deutsche Perfektionismus ist in der Stadtplanung manchmal der größte Gegner des Wohnungsbaus.
Was bedeutet das nun aber für Sie, liebe Leserinnen und Leser?
Für Mieter*innen:
Wohnungssuche wird herausfordernder. Wer flexibel ist, gewinnt.
Für Käufer*innen:
Neubau wird teuer. Bestandsobjekte sind attraktiv – aber nur, wenn Energieeffizienz und Lage stimmen.
Für Eigentümer*innen:
Der Wert bleibt stabil, aber ohne Modernisierung wird’s kritisch. Der energetische Sanierungsdruck steigt.
Für Investoren:
Neubau: Risiko hoch.
Umbau: spannend, aber komplex.
Revitalisierung: Zukunftsthema.
Bestand: weiterhin solide – sofern kein Sanierungsstau besteht.
Ausblick: Zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Was passieren müsste:
- schnellere und einfachere Genehmigungen
- langfristige Förderprogramme statt politischem Zickzack
- Fachkräfteoffensive im Bauhandwerk
- besser nutzbare Konversions- und Umbaukonzepte
Was realistisch passieren wird:
- eine langsame Bodenbildung
- weiterhin zu wenig Neubau
- mehr Umbau, mehr Nachverdichtung
- ein Wohnungsmarkt, der über Jahre angespannt bleibt
- steigende Relevanz energetisch guter Bestände
Der Wohnungsbau ist nicht tot. Aber er liegt weiterhin im künstlichen Koma – und die Bürokratie sitzt am Bett und blättert im Antragsordner.
Weiterführende Links
Hier die wichtigsten Informationsquellen aus dem Artikel:
- IW-Prognose zum Einbruch des Wohnungsbaus:
https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/immobilien-iw-prognose-wohnungsbau-schrumpft-2025-und-2026-deutlich-14643632.html - Analyse zu Baugenehmigungen und Fertigstellungen:
https://www.welt.de/politik/deutschland/article691c2fbc44ecdb8c59719838/24-400-wohnungen-rekord-bei-baugenehmigungen-im-september-kritik-an-historisch-niedriger-fertigstellungen.html - Statistische Zeitreihen zu Baugenehmigungen & Fertigstellungen:
https://www.bundesbank.de/en/statistics/sets-of-indicators/building-permits-and-completed-housing-units-in-germany-622710 - Reuters-Studie zum jährlichen Wohnungsbedarf:
https://www.reuters.com/markets/europe/germany-must-build-320000-apartments-yearly-meet-housing-demand-study-shows-2025-03-20 - ifo-Stimmungsbild Bauwirtschaft:
https://www.ifo.de/en/facts/2025-10-20/business-climate-residential-construction-germany-improves-significantly - Mieterbund-Analyse:
https://mieterbund.de/app/uploads/2025/04/Endbericht_Wohnungsbau-2025-_Quo-vadis_Stand-01.04.2025.pdf
